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18.06.20

Pressemitteilung: Artikel 3 des deutschen Grundgesetzes

Pressemitteilung: Artikel 3 des deutschen Grundgesetzes

CIJ argumentiert, dass Rasse immer noch eine notwendiges Diskriminierungsmerkmal im deutschen Grundgesetz ist.

Datum der Veröffentlichung: 17. Juni 2020

Geschrieben von: Miriam Aced und Wadzanai Motsi-Khatai

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Berlin, Deutschland

CIJ argumentiert, dass Rasse immer noch eine notwendiges Diskriminierungsmerkmal im deutschen Grundgesetz ist.

Das Center for Intersectional Justice lehnt den Vorschlag ab, den Begriff Rasse in Artikel 3 Absatz 3 des deutschen Grundgesetzes zu streichen oder zu ersetzen. Der Vorschlag kommt in der deutschen antirassistischen Bewegung zu leicht und zu früh. Rasse bleibt ein soziales Konstrukt, das Schwarze Menschen und People of Color tötet und schädigt. Eine Verfassungsänderung, die diese Realität ignoriert, setzt nicht nur die Communities of Color weiterer Diskriminierung und Unterdrückung aus, sondern sie untergräbt faktisch die antirassistische Bewegung. Nicht alles, was mit Rasse zu tun hat, ist rassistisch, und der Wechsel von "Rasse" zu "rassistische Zuschreibung" legt etwas anderes nahe. Ist es rassistisch zu sagen, dass eine Person Schwarz ist? Das sollte es nicht sein.

Wir sind mit der Änderung auf folgenden Gründen nicht einverstanden:

  • Rasse existiert als soziales Konstrukt und sollte als solches verstanden und diskutiert werden. Obwohl Rasse als biologische Theorie wissenschaftlich falsch ist, war und ist sie eine Linse, durch die die Menschen die Welt sehen und in ihr agieren. Diese Linse der kognitiven und impliziten Voreingenommenheit geht über Individuen hinaus. Voreingenommenheit zeigt sich in der Art und Weise, wie Gesellschaften Politik gestalten, Dienstleistungen anbieten und bestimmte Bevölkerungsgruppen ein- oder ausschließen. Artikel 3 ist in diesem Sinne geschrieben und verhindert Diskriminierung aufgrund sozialer Konstrukte, einschließlich Geschlecht, Nationalität, Religion. Der Begriff Rasse gehört in diese Liste als ein weiteres Konstrukt, das Diskriminierung und Voreingenommenheit aufrechterhält und unsere heutige Gesellschaft prägt.
  • Einmal als Konstrukt verstanden, dient der Begriff Rasse in der Verfassung nach Artikel 3 Absatz 3 als rechtliches und politisches Instrument zur Identifizierung und Bekämpfung von strukturellem Rassismus. Die Systeme des Kolonialismus, der Ausbeutung und der Gewalt, die durch rassistische Ideologien geschaffen und motiviert wurden, bestehen auch heute noch. Diese Institutionen und Systeme marginalisieren Schwarze Menschen und People of Color weiterhin. Gemäß Artikel 3 bietet der Begriff Rasse eine grundlegende rechtliche Grundlage, um das Erbe des Rassismus in Frage zu stellen und die Unterdrückung anzugehen, die der systemische Rassismus ermöglicht.
  • Die Streichung der Rasse würde die Bemühungen von Aktivisti*innen untergraben, weil antirassistische Interessensgruppen nicht mehr die institutionellen Instrumente und rechtlichen Rahmenbedingungen nutzen könnten, die notwendig sind, um dem systemischen Rassismus entgegenzutreten. Die Ersetzung von Rasse durch Formulierungen wie "rassistische Zuschreibung" wurde bereits in anderen Gesetzestexten in ganz Deutschland versucht. Die Änderung machte es für Anwält*innen*Anwälte sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich, institutionellen und strukturellen Rassismus vor Gericht geltend zu machen und darzustellen. Dies lag daran, dass die Verwendung von Formulierungen wie "rassistische Zuschreibung" bedeutete, dass Anwältinnen/Anwälte die Motivation eines Individuum nachweisen mussten, die eine anderes Individuum ungleich behandelt. Aber Rassismus ist weitaus komplexer als Individuen und ihre Absichten. Die Auswirkungen unterschiedlicher Behandlungen, d.h. die Auswirkungen bestimmter Politiken und Gesetze auf Einzelpersonen und Gemeinschaften von Menschen, sollte im Mittelpunkt des Antidiskriminierungsrechts stehen. Antirassistische Aktivist*innen müssen über rechtliche Wege verfügen, um strukturelle und institutionelle Diskriminierung, z.B. in Institutionen wie der Polizei oder dem Schulsystem, zu bekämpfen.
  • Den deutschen Politiker*innen und Institutionen ist das Ausmaß von Rassismus und Marginalisierung von Minderheitengruppen im Land eigentlich nicht bekannt. Deutsche Institutionen des öffentlichen Sektors haben es jahrelang versäumt, spezifische Daten zu sammeln, um zu vermeiden, dass sich die Menschenrechtsverletzungen und die potenzielle institutionelle Marginalisierung von Minderheiten, die während der Nazizeit stattfanden, wiederholen. Aber ohne disaggregierte Daten kann die Regierung nicht mit Sicherheit sagen, inwiefern Schwarze Menschen oder People of Color unterschiedliche Erfahrungen innerhalb dieses Landes oder in einem bestimmten Sektor machen. Wie kann Deutschland ohne ausreichende Daten eine Verfassungsänderung in dieser Größenordnung in Betracht ziehen?

Warum jetzt?

Wem nützt es, Rasse aus Artikel 3 Absatz 3 des deutschen Grundgesetzes herauszunehmen? Und warum ist Deutschland jetzt, nach Jahren der Verleugnung, bereit, über Rasse zu sprechen? Eine wachsende Zahl von Menschen wurde wie nie zuvor mobilisiert sich für einen substantiellen Strukturwandel einzusetzen. Diese soziale Revolution ist längst überfällig und notwendig und darf nicht im Namen der Ordnung untergraben werden. Wir müssen Frontex abschaffen, die Polizei enger kontrollieren und dessen Immunität entziehen, den Zugang zur Gesundheitsversorgung verbessern und weiterhin auf viele andere notwendige strukturelle Veränderungen in unserer Gesellschaft drängen. Artikel 3 Absatz 3 gibt den Aktivist*innen die rechtliche Grundlage, diese Änderungen zu fordern und umzusetzen. Deshalb bleibt Rasse ein entscheidender Begriff im deutschen Grundgesetz; nicht als Deskriptor für Menschen, sondern als grundlegender, rechtlicher Mechanismus zum Abbau heutiger Systeme der rassistischer Diskriminierung und Unterdrückung.

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Das Center for Intersectional Justice ist eine 2017 gegründete gemeinnützige Organisation mit Sitz in Berlin. Wir engagieren uns im Bereich der Advocacy- und Policy-orientierten Forschung, um Antidiskriminierungs- und Gleichstellungspolitik inklusiver zu gestalten und strukturelle Ungleichheiten in Europa effektiver anzugehen. Das CIJ versucht, den öffentlichen Diskurs und den Einfluss auf die Politikgestaltung durch direkte Interessenvertretung, Forschung und Politikberatung sowie durch Veröffentlichungen zu Fragen im Zusammenhang mit intersektionellen Diskriminierungen aufgrund von Rasse, Geschlecht, Klasse und allen anderen Unterdrückungssystemen, die die Ungleichheit aufrechterhalten, zu beeinflussen.

E-Mail: cij@intersectionaljustice.org

Website: www.intersectionaljustice.org

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